01.11.2021 Exkursion zum "silent green
Auch in diesem Jahr fand eine Exkursion zum Internationalen Literaturfestival Berlin statt. Sie führte den 13. Jahrgang und einen Grundkurs des 12. Jahrgangs in Begleitung ihrer Lehrerinnen an einen besonderen Ort: das silent green in Wedding. Das ehemalige Krematorium bot der norwegischen Autorin Marianne Kaurin die Bühne für eine Lesung aus ihrem Roman „Beinahe Herbst“. Hier berichtet Annalena über ihre Eindrücke von der Veranstaltung:
Am 09.09.2021 waren wir - der 13. Jahrgang der Ernst Haeckel Schule - bei einer höchst interessanten Lesung des fabelhaften Buches "Beinahe Herbst". Das im Original norwegische Buch wurde von Marianne Kaurin verfasst und gewann einen wohlverdienten Preis für Jugendliteratur. Es ist ein Roman, beruhend auf historischen Fakten, der jedoch das Leben einer fiktiven Familie behandelt. Mit einer zuckersüßen Liebesgeschichte, der allgegenwärtigen nagenden Angst einer jüdischen Familie im Jahr 1942 und einem fesselnden Abenteuer ist für jeden etwas dabei. Insbesondere soll der Roman Jugendliche ansprechen, die sich selbst mit Themen wie Liebe, Freundschaft und Gedanken an die Zukunft auseinandersetzen.
Mit dem Gedanken an eine hoffentlich spannende Lesung zogen wir in den Wedding.
Der Raum war in ein rotes Licht getaucht, als die Moderation Shiva Mesgarian uns den jungen Maarten Robeck vorstellte. Er war das Vorprogramm dieser Lesung. Allein dafür verdiente er sich meinen Respekt. Meine Anerkennung stieg an, als er mit seiner Performance begann. Mit lackierten Nägeln, passend zu seiner Augenfarbe, stellte er uns zwei seiner Texte vor, die er unter dem Motto "Europa - meine Heimat, meine Zukunft" verfasst hatte. Die Texte - mit den von ihm selbst als kreativ beschriebenen Titeln "Europa II" und "Europa I" - trug er mit einer Inbrunst vor, die klarmachte, dass er an das glaubte, was er geschrieben hatte. Sie beinhalteten Kritik an der aktuellen Politik Europas. Diese brachte vor allem zum Ausdruck, dass Hass und Rassismus immer noch Probleme sind, die nicht verfliegen werden, wenn es niemanden gibt, der sich dagegenstellt.
Dieser kurze sozialkritische Exkurs schien erst gar nicht zu dem Buch zu passen, das eigentlich vorgestellt worden war, doch im Kern gab es sehr wohl Verbindungen. Maarten Robeck schrieb über die Zukunft und das Hier und Heute, Marianne Kaurin hingegen über längst vergangene Ereignisse. Aber beides beschäftigt uns derzeit und prägt ganze Generationen. Auf unterschiedliche Weisen, keine Frage, doch so beginnen Veränderungen, oder? Ein Mensch, der den Anstoß für eine ganze Altersgruppe gibt, sich einer Entwicklung hinzugeben, die etwas Besseres bewirken soll.
Im Anschluss an die beiden Slam Texte, fanden sich die Autorin (Marianne Kaurin), die Sprecherin (Regina Gisbertz) und die Dolmetscherin (Elke Ranzinger) vorne bei der Moderation ein. Es war ein wenig traurig, dass die Autorin selbst nicht verstehen konnte, worüber gesprochen wurde. Ich kann nur hoffen, dass die Dolmetscherin ihr alles passend übersetzt hat. Die Schüler vor uns hätten sicher mehr darüber sagen können, denn die Zufälle der Welt machten auch vor dieser Lesung nicht halt.
Die Besucher aus einer anderen Schule sprachen, zumindest zum Teil, ebenfalls Norwegisch.
Eine wunderbare einleitende Frage der Moderatorin war, was Marianne Kaurin denn antworte, wenn sie gefragt wurde, was junge Menschen aus ihrem Buch lernen sollten. Die Antwort überraschte mich. Die Autorin antwortete, dass sie nicht daran glaubte, dass man immer etwas aus Büchern lernen müsse. Es ginge eher um die Erfahrungen und das Miterleben mit den Charakteren, als um ein tatsächliches Lernen. Und ich kann ihr nur beipflichten. Auch in einem auf Geschichte basierenden Roman sollte man sich als Leser nicht darauf beschränken, nur etwas lernen zu wollen. Ein Buch ist ein Werkzeug, um zu entdecken. Für all die Dinge, die auf andere Art nicht zu sehen sind. Sie stehen für Freiheit. Im Herzen und in der Fantasie. Warum also sollte ein Buch als Bildungsauftrag gelten?
Eine Besonderheit, welche dieses Buch aufzeigt, ist die Verwendung unterschiedlicher Perspektiven. So hängt es von den Kapiteln ab, aus wessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Dadurch gelingt es dem Leser, einen tieferen Einblick in das Leben der fünfköpfigen Familie Stern zu bekommen. Die Autorin geht nicht nur auf die Gedanken und die Gefühle Ilses ein, die die eigentliche Hauptperson des Buches ist, sondern sie zeigt auch andere Blickwinkel, die einem sonst verborgen bleiben. Der Vater Isaak, die Mutter Hannah und die drei Kinder Ilse, Sonja und Miriam. Sie alle vertreten ihre eigene Sicht auf die Welt und haben persönliche Ängste und Emotionen, die nur die Leser entdecken können.
Ein erstaunliches Können begnadeter Autoren ist es, das richtige Maß an Emotionen in die Charaktere hinein zu schreiben. Marianne Kaurin besitzt dieses Talent zweifellos. Bei dieser Erkenntnis kam mir ein Satz von Raoul Schrott in Erinnerung. Ein Autor, welchem wir bei einem vorangegangenen Literaturfestival bereits begegneten. Er sagte, Autoren bräuchten Empathie, um schreiben zu können. Ein schmerzhafter Gedanke, wenn man beachtet, wie viel Leid Buchcharakteren widerfährt. Auch in diesem Roman.
Dann begann die Sprecherin vorzulesen.
Ein beklemmendes Gefühl überkam mich. Eine Melancholie. Ob wegen des Themas oder der ausgezeichneten Betonung der Sprecherin, ich konnte es nicht genau sagen. Man konnte die Einsamkeit, die die Charaktere im Buch fühlen, selbst nachempfinden. Die Existenzangst des Vaters,
während er darüber nachdenkt, wie er den kleinen Laden seiner Familie retten könnte. Die Trauer, Wut und Machtlosigkeit eben jener, die als Aussätzige galten, während die Nazianhänger durch die Straßen zogen und jeden Menschen jüdischen Glaubens mitnahmen. Als "Abholen" beschrieb Marianne Kaurin die Gefangennahme der Familie Stern im zweiten Auszug, den wir zu hören bekamen. Ein furchtbar euphemistisches Wort für eine solche Handlung. Die Autorin selbst erklärte, dass es ein bisschen wehtun müsse, dieses Buch zu lesen. Wie könnte es nicht, wenn die grausamen Taten der Nationalsozialisten über der ganzen Geschichte schweben? Dem zu entkommen war unmöglich. Und das zeigt dieses Buch definitiv. Die Familie, um die es geht, mag fiktiv sein, doch der Zweite Weltkrieg war es sicher nicht. Weder die Angst, welche die Charaktere umtreibt, noch die unverstellte Menschlichkeit, die jede der Figuren Kaurins in verschiedenen Situationen zeigen.
Es ist ein sehr empfehlenswertes Buch für alle Geschichtsinteressierten und Lesebegeisterten, die sich nach einer spannenden und gleichzeitig tragischen (Liebes-)Geschichte sehnen.